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Der Ostler, das geheimnisvolle Wesen, ist seßhaft und unstet
zugleich. Der Marxist nennt das Dialektik, der Ostler Urlaub.
In die Dadra zieht es ihn Jahr für Jahr- was nichts anderes als
Hohe Tatra meint. Daß die Berge hoch sind, braucht der Ostler nicht
zu erwähnen, denn selbstverständlich liebt er die Herausforderung,
die Qual, das Seitenstechen und den Blick ins Tal. Könnte glatt von
Herbert Roth sein, ist aber von mir. Wenn wir hier vom wandernden Ostler
sprechen, muß allerdings einschränkend bemerkt werden, daß
es sich genaugenommen um den Südostler handelt. Der Ostberliner ist
zu sehr mit sich selbst beschäftigt und hat noch nie was anderes mitgekriegt.
Vom Mecklenburger sind keinerlei Aktivitäten jeglicher Art bekannt.
So bleiben in der Dadra die Harten unter sich und grüßen
freundlich auf polnisch, tschechisch, slowakisch, ungarisch und sächsisch.
Thüringisch wird man eher selten hören, denn dieses freundliche
kleine Bergvolk steht im Wandern dem Sachsen in nichts nach, schwitzt aber
lieber vor der eigenen Haustür, weil es den slowakischen Bratwürsten
nicht traut.
Auf jeden Fall aber wandert der Ostler im Kollektiv - will heißen,
Ostler und Ostlerin festen Schrittes vereint, das Ziel klar vor Augen und
wie einem 50er Jahre Wandbild entsprungen. Der Westler hingegen wandert
- sofern wir dieses Wort hierfür gebrauchen wollen - ohne Frau, welche
das angeblich seit Kindertagen ablehnt. Die Westfrau will im Urlaub auf
der Luftmatratze liegen und in Wellness machen. Die Ostfrau möchte
sich im Urlaub nicht wellfeelen, papperlapapp, sondern schmerzgestählt
hinan. Und wenn sie einen Westfreund hat, der dabei ein Leids ertragen
muß, kommt ja auch noch was Gutes dabei heraus. Ein bischen Spaß
haben möchte man im Urlaub dann doch.
Der Westfreund war sich nicht im klaren, was das süß dahingeflötete
"Wir gehen wandern, Schatz" in seiner Tiefe bedeutet. Als die Bergwand
mächtig und böse vor ihm auftaucht, nimmt er die Farbe der schneebedeckten
Gipfel an. Schnell behauptet er, keine Regenjacke mitzuhaben. "Halten"
dröhnt aus dem Fond des Kleinwagens die Stimme seiner persönlichen
Wandergruppenleiterin. Mit quietschenden Reifen stoppt man vor einem Sportgeschäft
und heraus tritt ein Paar im FDJ-blauen Windjackenpartnerlook, für
den man daheim in Sachsen sofort und völlig zu Recht verprügelt
würde. Jetzt aber mischt man sich - ein Kleinstkollektiv - unter all
die anderen, hunderte von Wandergruppen, die in Strbske Pleso (ein Name,
der schon beim Aussprechen Muskelkater verursacht) gen Seilbahn marschieren.
Dort ist die Bergwelt noch in Ordnung, sie gleiten bergauf, er läßt
den Blick ins postsozialistische Tal schweifen, sie operiert im Geist mit
Marschrichtungszahlen und Kompaß. Die Seilbahn hält, er glaubt
sich am Ziel und bestellt eine Krakauer - man ist ja schließlich
im Osten. Wie soll man seinen Gesichtsausdruck beschreiben, als er fährt,
daß das Ziel kein solches ist, sondern Ausgangspunkt aller Pein?
Man schreitet, man klettert, man balanciert - kurz, man wandert, und nach
300 Höhenmetern klaubt sie ihm liebevoll den Rucksack vom geschwächten
Leib. So geht der Tag, so geht die Hoffnung, doch der Gipfel naht. Kurz
davor ruft ihnen ein polnischer Bündnisbruder freudig zu "Sozialismus
kaputt, jetzt Freiheit!" Im Schatten dieser Wahrheit setzt der Westfreund
zur Flucht an, will nur eins noch: Rast.
Da hat er aber nicht mit dem Luis Trenker an seiner Seite gerechnet.
Selbst mit Reinhold Messner wäre er jetzt gern verheiratet. Der ist
immerhin ein Mann und wäre nie zu solcher Häme fähig wie
der fleischgewordene Pioniergruß neben ihm. Was sehnt er sich nach
schönen Tagen auf Westfrauenluftmatratzen, Weichei zu Weichei - aber
Ruhen! Doch neben ihm schneidet's ein "Aufstehn! Weiter!" in die kalte
Bergluft. Amnesty International und der nächste NATO-Stützpunkt
sind fern und er in den Fängen des Ostblocks.
Und morgen auf den nächsten Berg, jawohl. Denn wer in Strbske
Pleso je versucht hat, etwas anderes zu tun als zu wandern, weiß
um die Aussichtslosigkeit des Unterfangens. Unklar muß allerdings
bleiben, warum der Ostler brav stets wiederkommt und weiter wandert. Was
man vom Westfreund nicht behaupten kann.
Ella Hummelsteg
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